PROSA
2016
24 Faubourg - Ein Abschied
Nachdem wir den Körper meiner Mutter gewaschen hatten, suchte ich nach etwas Passendem zum Anziehen. Die Sterbebegleiterin und ich mussten, trotz der Tragik der Situation, schmunzeln, waren doch fast ausschliesslich enganliegende Kleidungsstücke im Schrank. Schliesslich fand ich eine modische schwarze Hose mit Gummizug und eine schwarze Bluse, bedruckt mit weissen Herzen. Es war jene Bluse, die sie noch nie angehabt hatte, weil sie die Knöpfe nicht zumachen konnte. Schon vor Ausbruch der Krankheit war sie feinmotorisch nicht besonders begabt. Warum hatte sie diese Bluse mit dem kindlichen Muster überhaupt gekauft? Vermutlich hatte sie sie gar nicht anprobiert. Jetzt betrachtete ich wehmütig ihre grossen Hände, für die sie sich immer so geschämt hatte. Auch mit ihren grossen Füssen hatte sie sich nie anfreunden können. Ich war noch klein, als mein Vater sie einmal als „Krallen“ bezeichnete.
Zugegeben, die Knöpfe waren tatsächlich sehr klein und die Knopflöcher eher Schlitze als Löcher. Doch viel schwieriger gestaltete es sich, ihr die Bluse überhaupt anzuziehen. Nachdem wir den linken Arm in den schmalen Ärmel eingefädelt hatten, hielt die stämmige Viola den schweren, schlaffen Oberkörper gegen sich gedrückt, so dass ich das feine Gewebe hinter dem Rücken durchziehen konnte. Die Haltung der beiden erinnerte mich an eine Pietà-Darstellung und löste in mir zwiespältige Gefühle aus. Einerseits empfand ich die in diesem Moment entstandene Nähe zwischen meiner Mutter und der fremden Viola als unangenehm. Woher dieses Gefühl rührte, weiss ich bis heute nicht. Ein absurder Gedanke, aber war ich etwa eifersüchtig? Und wenn ja, auf wen? Gleichzeitig war ich unendlich dankbar, den toten Körper nicht an meine Brust pressen zu müssen.
Um den rechten Arm in den Ärmel zu bekommen, musste ich anatomisch denken. Auch wenn ich meiner Mutter nicht mehr weh tun konnte, wollte ich deren Arm freilich nicht verdrehen.
Im Schlafzimmer roch es nach einem Gemisch aus Parfum und Urin. Harn lassen die Sterbenden angeblich in jenem Moment, in dem sie das Leben loslässt. Auch kommt es vor, dass sich der Darm zum letzten Mal entleert. Für die äusserliche Körperreinigung hatte ich dem Waschwasser auf Violas Rat hin Mutters Lieblingsparfum beigemischt. 24 Faubourg von Hèrmes. Ich mochte diesen aufdringlich nach Orangenblüte riechenden Duft nie besonders gerne. Früher hatte sie ein anderes Parfum: Shalimar von Guerlain. Dieses würzig-süssliche Gemisch aus Räucherharz, Vanille und Tonkabohne umhüllte mein kindliches Gemüt wie ein Schutzmantel. Ich war noch klein, als mein Vater ihr ein Fläschchen zum Geburtstag schenkte. Ein kleines, orientalisch geformtes Flakon aus kunstvoll gerilltem Glas mit einem goldenen Schaft und einem tropfenförmigen Kristallglasverschluss. Eben ein Parfum, nicht etwa ein Eau de Parfum oder gar ein Eau de Toilette. Ich war noch keine zehn Jahre alt, da kannte ich den Unterschied.
Schlafendes Glas – ein Rätsel
An das zweite Bett im Schlafzimmer haben wir uns noch nicht gewöhnt. Obwohl es klein ist und nicht in der Raummitte steht, wirkt es raumgreifend. Diese fast schon aufdringliche Präsenz liegt wohl an seinen plumpen, bärentatzigen Füssen, dem viel zu hohen Baldachin, der steif gezogenen Decke und dem beinharten Kopfkissen. Niemand wird sich dort hineinlegen. Ausser vielleicht ein Staubkorn oder ein Fussel. Und auch wenn wir meinen, abgelenkt zu sein - unbewusst empfangen wir klare Botschaften: „Ich bin noch immer hier“, „ich bin im Mittelpunkt, obwohl so klein“, „ich entwickle mich nur langsam“, „stellt euch auf einen langen Prozess ein“, „ich bin zerbrechlich, passt auf, tragt Sorge zu mir“.
Wünschen wir uns manchmal insgeheim, dass es von selbst geht? Würde uns das von irgendetwas erlösen?